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VOM GEHEN ZUM FAHREN

Mobilitätsformen und städtische Umwelt in Wien von 1850 bis 2000

Weder die Anzahl noch die insgesamte Zeit der täglichen Wege, zwischen unserem Zuhause und unserem Arbeitsplatz, ebenso die insgesamte Reisezeit verändert sich nicht. Was sich hingegen in den letzten hundert bis hundertfünfzig Jahren entscheidend verändert hat, ist die Art und Weise, wie wir diese Strecken überwinden: Wir gehen immer weniger zu Fuß, wir fahren.

Was zunächst wenig spektakulär wirkt, hat weit reichende Auswirkung auf unseren Umgang mit dem städtischen Raum. Die Menschen nützen nämlich höhere Fahrgeschwindigkeiten weniger, um Reisezeit einzusparen, als um ihre Aktivitätsradien auszudehnen. Sie müssen dies infolge der neuen Stadtstrukturen auch tun. Das bedeutet aber in der Summe wesentlich mehr Verkehr, mehr durchfahrene und damit belastete Zwischenräume und schließlich mehr verbrauchte Ressourcen, mehr Materialeinsatz und Energieaufwand für unsere Mobilität.

Die einfachste Fortbewegungsart, das Zufußgehen, beherrschte trotz weit verzweigter Omnibus- und Straßenbahnnetze noch um 1900 das Mobilitätsverhalten in Wien. Nur etwa jede zehnte Ortsveränderung wurde Schätzungen zufolge mit öffentlichen Verkehrmitteln zurückgelegt. Die Jahrzehnte der Gründerzeit bedeuteten dennoch eine gewaltige Mobilisierung der städtischen Gesellschaft: Von 1869 bis 1910 verdoppelte sich die Bevölkerung Wiens auf knapp über zwei Millionen Menschen. Zugleich erhöhten sich die Benützerzahlen der öffentlichen Verkehrsmittel auf das 25-fache. Bis 1930 erreichte dann der öffentliche Verkehr mit einem geschätzten Drittel aller zurückgelegten Wege bereits jenen Stellenwert, den er heutzutage einnimmt. Das heißt aber gleichzeitig, dass der Anteil öffentlicher Verkehrsmittel in Wien seit Anfang der 1930er-Jahre bis heute nicht mehr wesentlich ausgebaut werden konnte.

Seit damals hat sich jedoch die Zahl der zu Fuß zurückgelegten Wege deutlich verringert- es wurde immer mehr gefahren, bloß nicht mit der Straßenbahn oder mit dem Fahrrad, sondern mit Autos oder Motorrädern.

Spätestens seit 1970 wurden mehr Wege in der Stadt mittels motorisiertem Untersatz zurückgelegt als zu Fuß - mit unliebsamen Folgen für die städtische Umwelt

Die Lärm- und Abgasbelastung nahm zu, die Unfallgefahr stieg, ebenso die Verwendung von Flächen zu Verkehrszwecken. Im Vergleich zu anderen Städten hätte es freilich noch schlimmer (Berlin-West, Frankfurt) aber auch besser (Zürich, Stockholm, Amsterdam) kommen können, Angesichts dieser Tatsachen relativiert sich der so oft kolportierte, relativ hohe ‘Öffi’- Anteil Wiens.

Vom Linien- zum motorisierten Individualverkehr

Die öffentlichen Verkehrsmittel in Wien können geradezu als Lehrbeispiel dafür dienen, dass geschichtliche Entwicklungen grundsätzlich offen - und damit beeinflussbar sind. Auch das Verkehrswesen unterliegt nicht nur Sachzwängen und technisch-wirtschaftlichen Determinaten, sondern ist mindestens genauso von Entscheidungen in Politik und Planung abhängig. Vorgänge wie Vollmotorisierung oder Rückbau des öffentlichen Verkehrs ‘passieren’ nicht einfach: Sie werden auch gemacht.

Als nach 1950 die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel einbrach und die Zahl motorisierter Personenfahrzeuge steil anstieg, unternahmen die Wiener Verkehrsbetriebe keinen nennenswerten Versuch, den Fahrgastschwund durch Verbesserungen im öffentlichen Angebot aufzufangen und dem neuen Trend zum motorisierten Individualverkehr entgegenzuwirken. Im Gegenteil: Das Angebot wurde noch schlechter. Beide Trends verstärkten einander. Weniger Angebot lockte weniger Fahrgäste an. Die Verkehrsbetriebe reagierten mit einem noch geringeren Angebot. Während die Netzlänge zunächst noch leicht ausgebaut wurde, stagnierte von 1949 bis 1955 die Fahrleistung der Straßenbahnen und wurde danach Jahr für Jahr zurückgeschraubt. Bis 1970 reduzierten die Wiener Verkehrsbetriebe die angebotenen Nutzkilometer um ein Drittel, nämlich auf den Stand des Jahres 1923. Mit dem Paradigmenwechsel der Verkehrspolitik vom öffentlichen zum individuellen Verkehr erfolgte zugleich die Ablösung des so genannten ‘Schienen- Paradigmas durch das ‘Straßen-Paradigma’. Die Vorteile des motorisierten Individualverkehrs ergaben sich zunehmend aus den Schwächen des öffentlichen Verkehrs.

Die Jahrhundertmitte um 1950 erweist sich damit als die Zeit einer folgenschweren Trendwende in der urbanen Mobilität

Es ist bedauerlich, wenngleich nicht zufällig, dass dieser Rückgang gerade in der Zeit der ‘Wirtschaftswunderjahre’ stattfand, als die städtische Verkehrsmobilität generell zunahm. Stadtplanung und große Teile der Öffentlichkeit wurden vom kollektiven Leitbild der Vollmotorisierung
beherrscht und haben den privaten Kfz-Verkehr daher vorrangig behandelt. Der Ausbau des Linienverkehrs hielt mit der Erweiterung der Stadt in der Nachkriegszeit nicht Schritt. Hätte es auch anders kommen können? Wie viel weniger Autoverkehr und wie viel mehr an urbaner Lebensqualität gäbe es heute in Wien, wäre die Priorität des öffentlichen Verkehrs nicht für Jahrzehnte aufgegeben worden?

Die letzten zwei Jahrzehnte zeigen jedenfalls, was eine offensivere Verkehrspolitik im Bereich des öffentlichen Verkehrs bewirken kann: Fahrleistung und Netzlänge wurden erhöht und attraktivere Verkehrsmittel eingeführt (neue U-Bahnlinien, neue Niederflur- Straßenbahn oder Niederflur-Autobus-Linien). Eine ‘Verkehrsmusterstadt’ ist Wien aber noch lange nicht: Straßenbahnlinien werden immer noch eingestellt und trotz Parkraumbewirtschaftung wird die Straße überwiegend vom ruhenden und rollenden Autoverkehr dominiert. Doch der Anteil der ‘Öffis’ in der Verkehrsmittelwahl konnte zumindest gehalten und die Beförderungszahlen der Jahrhundertmitte wieder überschritten werden.

Verkehr in der Fläche

Das Raumgefüge der Stadt hat sich in mancher Hinsicht im 20. Jahrhundert kaum verändert: Das Verhältnis von Fahrbahnen und Gehsteigen ist seit der Zwischenkriegszeit mit rund zwei zu eins etwa gleich geblieben – trotz zahlreicher neuer Schnellstraßen. Vor allem die Fahrbahn im dicht bewohnten Stadtgebiet wird jedoch heutzutage anders genützt. Fließender und ruhender Pkw-Verkehr beanspruchen mehr und mehr Fläche und tragen wesentlich zur völligen Monofunktionalisierung der Straßen und Gassen für reine Verkehrszwecke bei. Es macht nämlich einen großen Unterschied, wer oder was durch die Straßen ‘fließt’. Das Fahrrad benötigt bei einer Geschwindigkeit von dreißig Kilometer pro Stunde rund sieben Quadratmeter, ein zur Hälfte besetzter Bus vier Quadratmeter pro Fahrgast und schließlich ein Pkw nicht weniger als 75 Quadratmeter Fahrbahnfläche pro Person. Der Flächenbedarf für ein und denselben Weg variiert also, je nachdem, ob per Fahrrad, Bus oder Auto zurückgelegt, um das zehn- bis zwanzigfache.

Bedenkt man, dass in Wien täglich über eine halbe Million Autos jeweils durchschnittlich eine gute halbe Stunde unterwegs sind - Pendler nicht mit eingerechnet - lässt sich erahnen, in welch überragendem Maße ein einziges Individualverkehrsmittel, das lediglich ein Drittel der Mobilität besorgt, den Stadtraum beansprucht. In welchem Ausmaß wäre wohl öffentlicher Raum für Grünflächen oder soziale Aktivitäten zurückzugewinnen, wenn es gelänge, den Anteil des motorisierten Personenverkehrs bloß um ein paar Prozentsätze zu reduzieren?

Auch der so genannte ‘ruhende’ Verkehr ergreift massiv Besitz vom Stadtraum- eine historisch
völlig neue Situation. Ein privater Pkw wird in Wien im Durchschnitt lediglich eine halbe Stunde pro Tag benützt- er steht daher die meiste Zeit unbenützt herum. Während sich die Zahl der Personenkraftwagen zwischen 1936 und 2000 mehr als vervierzigfachte – von 15.353 auf 638.568, hat sich die auf einen Bewohner entfallende Straßenfläche lediglich verdoppelt. Der überwiegende Teil der Autos wird jedoch immer noch im öffentlichen Raum geparkt. Dies hat zur Folge, dass die Nebenstraßen der Stadt durch die ein- oder beidseitige Schrägparkordnung bis zur Hälfte durch abgestellte Pkws besetzt sein können. Das ‘Fahr- und Stehzeug’, wie der Verkehrsexperte Herman Knoflacher das Auto charakterisiert, veränderte also den Straßenraum grundlegend und schränkte andere Nutzungsmöglichkeiten ein - unter anderem auch die technischen Möglichkeiten der öffentlichen Verkehrsmittel. In der Bim oder im Bus fahren wir also heute kaum schneller als vor neunzig Jahren. Erst die U-Bahn schaffte den Sprung nach vorne. Doch das hatte seinen Preis: Eine U-Bahn zu errichten bringt weitaus höhere Umwelteingriffe mit sich, sie zu betreiben bedarf mehr Energie pro Zugkilometer als bei anderen schienengebundenen Verkehrsmittel (einschließlich des Stationsbetriebs) und ihr Netzausbau bis an den Stadtrand bedeutet eine weitere Segregation und Entmischung der Stadt.

Energie für den Verkehr

Von stets effizienter werdenden Technologien wäre im Sinne eines technischen ‘Fortschritts’ zu erwarten, dass gleichbleibender Energieaufwand mehr Betriebsleistung erbringen würde. Die elektrische Straßenbahn wendet jedoch pro gefahrenem Kilometer im Linienbetrieb heute rund das fünffache an Energie auf als im Jahr 1910. Auf einen ‘Beförderungsfall’ umgerechnet beträgt die Steigerung an Energieaufwand immer noch das dreifache- wir kommen damit allerdings nicht schneller voran, sondern sitzen lediglich in größeren, komfortabler ausgestatteten Fahrzeugen. Die U-Bahn erreicht zwar ein hohes Tempo, doch dies wird durch längere Anlaufwege zu den Stationen und eine insgesamt noch ungünstigere Energiebilanz pro beförderter Person erkauft.

Fahren-können statt gehen-müssen bedeutet für die Stadtbewohner einen Gewinn an Freiheit. Die Verfügbarkeit von Stadt, die Möglichkeiten der Raumüberwindung haben im Laufe der letzten eineinhalb Jahrhunderte enorm zugenommen. Doch damit sind auch Verluste und neue Abhängigkeiten verbunden, denn die Vielfalt der Raumaneignung scheint eher abgenommen zu haben. Mit anderen Worten: Wir fahren zwar heute weiter und bequemer, können aber im Stadtraum selbst weniger unternehmen, weil uns dazu Platz und Ruhe fehlen. Die entscheidende Bruchstelle in dieser Entwicklung liegt in den 1950er- Jahren, als sich Verkehrspolitik und Stadtplanung von der fußläufigen, Straßenbahn- und Rad-fahrenden Stadt ab- und der ‘autogerechten’ Stadt zuwandten.

Gekürzte Fassung des Beitrags: Verkehr in Wien. Personenverkehr, Mobilität und städtische Umwelt 1850 bis 2000. In: Karl Brunner/ Petra Schneider ( Hrsg.): Umwelt Stadt. Geschichte des Natur- und Lebensraumes Wien, Böhlau Verlag, Wien-Köln- Weimar 2005. 659 S, 990 s/w u. Farb. Abb, EUR 39.-, ISBN 3-205-77400-0

Mag. Dr. Sándor Békési, Historiker, ist Kurator am Wien Museum im Department Topografie und Stadtentwicklung, Forschungsarbeiten zum Thema Stadt-, Umwelt- und Verkehrsgeschichte.
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Danke an Walter Vertat für die Vermittlung dieses Textes.



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GastautorIn: Dr. Sandor Bekesi für oekonews.
Artikel Online geschaltet von: / Lukas Pawek /