© congerdesign auf Pixabay  / Keimlinge
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Abstimmung zu EU-Saatgutrecht: Industrie-Angriff auf Vielfalt großteils abgewehrt

EU-Parlament stimmt für bäuerliches Recht auf Saatgut – verabsäumt aber, die Erhaltung lokaler und traditioneller Sorten zu stärken

Schiltern, Wien, Straßburg – Am 24. April 2024 stimmte das Plenum des EU-Parlaments in Straßburg über das neue EU-Saatgutrecht ab. ARCHE NOAH betrachtet den Beschluss über neue Vorschriften für die Produktion und das Inverkehrbringen von Saatgut und sonstigem Pflanzenvermehrungsmaterial mit gemischten Gefühlen. Trotz des aggressiven Lobbyings seitens der Saatgut-Industrie und ihrer Interessensvertretung Euroseeds in den letzten Tagen, hat eine Mehrheit der EU-Abgeordneten die konstruktive Vorlage des Agrarausschusses in fast allen Punkten unterstützt. „Mit dem heutigen Beschluss hat das EU-Parlament anerkannt, dass die Saatgut-Vielfalt für unsere Bäuer:innen zentral ist“, sagt Magdalena Prieler, Saatgutrechts-Expertin bei ARCHE NOAH.

Der Beschluss des EU-Parlaments sichert die uralte Tradition und das Recht von Bäuer:innen ab, ihr eigenes Vermehrungsmaterial in kleinen Mengen untereinander entgeltlich und unentgeltlich tauschen zu können – eine Praxis, die seit Generationen praktiziert wird und die die Resilienz und Unabhängigkeit in der Landwirtschaft stärkt. Zudem gewährt der Beschluss Bäuer:innen weiterhin den Zugang zu traditionellen Sorten wie beispielsweise der alten Paradeiser-Sorte „Rotes Herz“, zur Steinfelder Tellerlinse, zur Laaer Zwiebel oder zum Laufener Landweizen. Der Beschluss befreit die Landwirt:innen genauso wie die Erhaltungsinitiativen von neuen bürokratischen Vorschriften. Alle diese Punkte im Bericht von Herbert Dorfmann, dem Berichterstatter im zuständigen EU-Landwirtschaftsausschuss, hat die Saatgut-Industrie massiv bekämpft. Trotzdem fanden sie letztendlich Unterstützung der Sozialdemokraten, der Grünen und Linken sowie von Teilen der Europäischen Volkspartei und der liberalen Fraktion Renew.

In einem für die Rettung traditioneller und lokaler Sorten wesentlichen Punkt hat sich jedoch die Industrie-Lobby durchgesetzt. Die Weitergabe gefährdeter Sorten zum Zweck ihrer Erhaltung hätte vom Geltungsbereich des Saatgutrechts ausgenommen werden sollen. Diese Möglichkeit wurde heute stark eingeschränkt. Nur etablierte Erhaltungsorganisationen dürfen zukünftig von dieser Ausnahme Gebrauch machen. „Viele Akteur:innen in Europa tragen zur Rettung der Sortenvielfalt bei, unter anderem lokale Saatgutproduzent:innen, einzelne Bäuer:innen, aber auch öffentliche Initiativen wie Saatgut-Bibliotheken“, sagt Prieler. „Der heutige Beschluss verabsäumte es, für diese für die Gesellschaft so wichtigen Leistungen einen klaren Rechtsrahmen zu schaffen. Das ist enttäuschend und inakzeptabel.“ Die Industrie hat behauptet, dass diese Ausnahme zu „unkontrollierten Parallelmärkten“ führen würde. In der Realität ging es um die Weitergabe von Kleinstmengen, zum Beispiel 500 Gram Gemüse-Saatgut pro Jahr. „Die Industrie hat mit Panikmache und falschen Argumenten die EU-Abgeordneten dazu gebracht, die Empfehlung des Fachausschusses abzulehnen. Diversifizierung und Vielfalt auf dem Acker sind das effektivste Werkzeug, um die negativen Auswirkungen der Klimakrise in der Landwirtschaft wie extreme Wetterbedingungen oder neue Krankheiten und Schädlinge zu lindern.“

ARCHE NOAH und andere Saatgut-Initiativen aus ganz Europa haben in den letzten Tagen EU-Abgeordnete kontaktiert, um über die Bedrohung für die Vielfalt zu informieren und das bäuerliche Recht auf Saatgut einzufordern. „Wir bedanken uns bei unseren Unterstützer:innen, die diesen Einsatz möglich gemacht haben und bei all jenen, die in den letzten Tagen und Wochen Saatgut-Päckchen ans EU-Parlament geschickt haben oder selbst EU-Abgeordnete angerufen haben“, sagt Prieler.

Diese Arbeit geht nach der gesterigen Abstimmung weiter: Der Beschluss bildet nun die Grundlage für die Verhandlungen des EU-Parlaments im Trilog mit der EU-Kommission und dem Rat der Landwirtschafts-Minister:innen über den endgültigen Gesetzestext. Die Verhandlungen werden voraussichtlich erst Ende 2024 beginnen. Ein Fortschrittsbericht der belgischen Ratspräsidentschaft und eine Diskussion der EU-Landwirtschafts-Minister:innen ist für das letzte Ratstreffen vor der Sommerpause, am 24. und 25. Juni 2024, geplant. „Wir fordern den Rat der EU-Landwirtschafts-Minister:innen auf, dem Druck der Saatgut-Industrie zu widerstehen. Wir brauchen eine sichere Grundlage für ein nachhaltiges, widerstandsfähiges und vielfältiges Lebensmittelsystem!", so Magdalena Prieler von ARCHE NOAH. „Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig muss aktiv dafür sorgen, dass heimische Sorten, die regionale Küche und das bäuerliche Recht auf Saatgut nicht durch globale Konzerne gefährdet wird."


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /