© Shervine Nafissi / Greenpeace / Freude bei den Klimaseniorinnen über das Urteil
© Shervine Nafissi / Greenpeace / Freude bei den Klimaseniorinnen über das Urteil

Klimaschutz ist Menschenrecht!

Europäischer Menschenrechtsgerichtshof verurteilt die Schweiz wegen zu wenig Klimaschutz

©  Shervine Nafissi / Greenpeace / Die Klimaseniorinnen erreichten ein wichtiges Urteil
© Shervine Nafissi / Greenpeace / Die Klimaseniorinnen erreichten ein wichtiges Urteil

Ein absoluter Meilenstein im Umweltrecht wurde erreicht. Klimaschutz ist ein Menschenrecht, und: Die Schweiz hat das Recht auf Klimaschutz verletzt. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. Konkret stellte das Gericht eine Verletzung von Artikel 8 fest (Recht auf Privat- und Familienleben). Der Gerichtshof stellte ausserdem fest, dass die Klage des Vereins, der derzeit über 2500 Frauen im Alter von 64 Jahren und älter vertritt, Opferstatus hat. Dies ist ein grosser Sieg nicht nur für alle älteren Frauen, sondern für den Zugang zur Justiz in ganz Europa. Hingegen beurteilte der Gerichtshof die Klage der Einzelklägerinnen als unzulässig.

"Wir haben Geschichte geschrieben", freut sich Anne Mahrer, die Ko-Präsidentin des Vereins KlimaSeniorinnen, der die Schweiz verklagt hat und der in Strassburg Recht bekommen hat. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz wegen ungenügenden Klimaschutzes verurteilt. Damit hat der EGMR erstmals überhaupt einen Klimafall beurteilt und ist zum Schluss gekommen, dass Klimaschutz Menschenrecht ist. Das Urteil fiel klar: in vielen Punkten entschied das Gericht einstimmig, in anderen mit 16 gegen 1 Stimme.

In der Schweiz zuvor abgeblitzt

Die KlimaSeniorinnen haben im November 2016 beim Departement für Umwelt, Verkehr und Energie (UVEK) – damals unter der Führung von Bundesrätin Doris Leuthard – Beschwerde eingereicht: Der Bund schütze sie als alte Frauen zu wenig vor den Folgen des Klimawandels. Das UVEK wies die Beschwerde ab, ebenso wie danach das Bundesverwaltungs- und schliesslich das Bundesgericht, mit jeweils leicht unterschiedlichen Argumenten. Im Wesentlichen stellten die Gerichte aber fest, dass die KlimaSeniorinnen nicht klageberechtigt seien; das Bundesgericht befand – an allen Realitäten vorbei – die Klägerinnen seien derzeit noch nicht in ausreichendem Masse vom der Klimakrise betroffen, um klageberechtigt zu sein.


Es blieb der Gang nach Strassburg. Im März 2023 hörte der EGMR die Parteien an und die n Urteilsverkündigung ist klar: Die Schweiz hat den Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Insbesondere hat das Gericht gerügt, dass die Schweiz ihre Klimapolitik nicht auf ein CO2-Budget abstütze. Ein solches Budget würde festlegen, wie viel CO2 die Schweiz unter Berücksichtigung ihrer internationalen Verpflichtungen und der wissenschaftlichen Erkenntnisse insgesamt noch emittieren darf.

Der Gerichtshof stellte fest, dass die Schweiz ihren Verpflichtungen aus der Menschenrechtskonvention bezüglich Klimawandel nicht nachgekommen ist. Die Schweizer Behörden hatten nicht rechtzeitig und in geeigneter Weise gehandelt, um Massnahmen zur Abschwächung der Auswirkungen des Klimawandels zu treffen. Darüber hinaus hat die Schweiz ihre eigenen ungenügenden Ziele zur Reduktion der Treibhausgasemissionen nicht erreicht.

Der Gerichtshof bestätigt mit seinem Entscheid, dass die klimabedingt immer häufigeren und intensiveren Hitzewellen eine reale und ernsthafte Gefahr für die Gesundheit und das Privat- und das Familienleben (Artikel 8 EMRK) der Seniorinnen darstellen, und dass ein Zusammenhang besteht zwischen diesen negativen Auswirkungen auf die Seniorinnen und den Schweizer Klimaschutzmassnahmen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zudem geurteilt, dass die Schweiz das Recht der KlimaSeniorinnen auf Zugang zu einem Gericht verletzt hat. Die Schweizer Behörden und Gerichte hätten eine inhaltliche Prüfung der von den Seniorinnen geltend gemachten Menschenrechtsverletzungen vornehmen müssen. Auch im Kontext der Klimakrise besteht eine Pflicht, begangene Menschenrechtsverletzungen zu überprüfen.

Dieses Urteil hat weitreichende Auswirkungen. Es ist ein Präzedenzfall für alle 46 Staaten des Europarates. Alle Europarat-Staaten können jetzt von ihren Bürger:innen aufgefordert werden, ihre Klimapolitik zur Wahrung der Menschenrechte anhand der vom EGMR erarbeiteten Grundsätze zu überprüfen und nötigenfalls zu verstärken. Dieses Urteil hat weltweit Signalwirkung.

"Dieses Urteil ist nicht nur ein Sieg für uns KlimaSeniorinnen. Unser Sieg ist ein Sieg für alle Generationen. Insbesondere für die portugiesischen Jugendlichen, deren Generation von einem langfristig verbesserten Klimaschutz profitieren wird. Die Anwesenheit der Jugendlichen im Gerichtssaal zeigte den Richter:innen das Gesicht der Menschenrechte für die Zukunft", meint Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen.

"Dieses Urteil ist ein Meilenstein im Kampf für ein lebenswertes Klima für alle. Und das Urteil ist eine Genugtuung. Seit neun Jahren kämpfen wir mit Unterstützung von Greenpeace für Klimagerechtigkeit. Nachdem uns die Schweizer Gerichte nicht angehört haben, bestätigt nun der EGMR: Klimaschutz ist ein Menschenrecht", sagt Anne Mahrer, Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen.

"Ich bin überwältigt und extrem stolz, dass die Seniorinnen nach neun Jahren intensiver Arbeit nun endlich zu ihrem Recht gekommen sind. Das ist ein unbeschreiblicher Moment», sagt Cordelia Bähr, leitende Rechtsanwältin der KlimaSeniorinnen. «Die Bedeutung dieses Entscheids ist nicht zu überschätzen. Er wird weltweit für weitere Klimaklagen gegen Staaten wie auch gegen Unternehmen von grosser Bedeutung sein und deren Erfolgsaussichten erhöhen. Das Urteil zeigt Bürger:innen, Richter:innen und Regierungen in ganz Europa, was in Sachen Klimaschutz erforderlich ist, um die Menschenrechte einzuhalten."

In ihrem Kampf um Klimagerechtigkeit werden die Seniorinnen von Greenpeace unterstützt.

"Dieses Urteil für den Schutz der Menschenrechte und das Wohlergehen von uns allen ist ein Weckruf für Bundesrat und Parlament. Jetzt gilt es, den Klimaschutz in der Schweiz rasch zu verstärken. Der Entscheid des Gerichtshofs ist für Bundesrat und Parlament verbindlich. Menschenrechte sind die Basis jeder Demokratie – wir erwarten, dass sich Politiker:innen aller Couleur an das Urteil halten", sagt Georg Klingler, Initiator und Projektkoordinator bei Greenpeace Schweiz.

"Der Kampf um Klimagerechtigkeit hört in Strassburg nicht auf. Wir bringen die Geschichte der KlimaSeniorinnen auch vor den Internationalen Gerichtshof, wo Anfang nächsten Jahres Anhörungen zu den Klimagerechtigkeitsverpflichtungen aller Regierungen – auch der Schweiz – stattfinden werden", sagt Louise Fournier, Juristin bei Greenpeace International, die das Rechtsteam der KlimaSeniorinnen unterstützt hat.


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /