© Gerd Altmann pixabay.com
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Israel in der Hamas-Falle

Eine Ansichtssache von Franz Alt

Die palästinensische Terror-Organisation Hamas hat am 7. Oktober 2023 etwa 1.200 Israelis getötet und 240 Geiseln entführt. In einem Rachefeldzug hat die israelische Regierung nach Hamas-Angaben in den folgenden vier Wochen etwa 16.000 Palästinenser getötet, darunter 6.000 Kinder, und Nord-Gaza weitgehend in Trümmer gelegt.

Die UNO hält die Zahlenangaben für glaubwürdig. Und jetzt wird auch der Süden des Gaza-Streifens zerbombt. 75 Jahre nach Verabschiedung der Menschenrechte haben wir mehr Gewaltkonflikte auf der Welt als je zuvor: Den Klimawandel, den Ukraine-Krieg, den Nahostkonflikt, global 55 Kriege und die ständige Gefahr eines Atomkriegs. Diese Gewalt muss zu Ende kommen.

Zum bisherigen Kriegsverlauf in Gaza: In vier Tagen Waffenruhe kamen 100 Geiseln frei. In 50 Tagen Krieg kam durch militärische Gewalt eine Geisel frei – auf Kosten tausender toter Zivilisten (Standing Together ist eine Basisbewegung, die jüdische und palästinensische Bürger Israels für Frieden, Gleichheit sowie soziale und Klimagerechtigkeit).

Gleich nach dem 7. Oktober hatte US-Präsident Biden die israelische Regierung davor gewarnt, jetzt die Fehler der US-Regierung George W. Bush nach dem 11. September 2001 zu wiederholen und auf Rache zu setzen. Der Bush-„Krieg gegen den Terror“ hatte dazu geführt, dass es heute mindestens zehnmal mehr Terroristen gibt als zuvor. Das Ergebnis eines Krieges gegen die Hamas dürfte kaum anders ausfallen.

Eine palästinensische Friedensaktivistin hat soeben bei „Markus Lanz“ vermutet, dass „auf jeden getöteten Terroristen zehn neue Terroristen nachrücken werden“. Je mehr Palästinenser getötet werden, desto stärker werde die Hamas. Doch die Natanjahu-Regierung läuft zur Zeit wie blind in die Hamas-Falle.

Davor warnt jetzt auch der UNO-Generalsekretär Guterres in einem eindringlichen und dramatischen Appell und fordert einen sofortigen „humanitären Waffenstillstand“. Guterres prognostiziert: „Fürchterliches menschliches Leid, physisische Zerstörung, und kollektives Trauma in ganz Israel und in dem besetzten Palästinenser-Gebiet“ und er prognostiziert eine Apokalypse. „Die öffentliche Ordnung dürfte bald zusammenbrechen.“ Die israelische Regierung wies die Forderung des UNO-Generals nach einem Waffenstillstand empört zurück.

Jeder humanistisch und ethisch empfindende Mensch, der die Bilder der Zerstörung und die toten Zivilisten sowohl auf palästinensischer Seite heute sieht und auf israelischer Seite am 7. Oktober gesehen hat, wird dem UNO-Generalsekretär zustimmen. Auch im Sinn der künftigen Sicherheit Israels.

Die israelische Regierung hat die Gaza-Bewohner erst aufgefordert in den Süden des Landes zu fliehen, hat aber ihre Angriffe inzwischen auch auf den Süden  ausgedehnt. Dort fragen die Bewohner jetzt verzweifelt, wohin sie noch fliehen sollen. Nach Ägypten dürfen sie auch nicht. Ihre Versorgung mit Wasser, Essen, Medikamenten und Energie ist zusammengebrochen. Die in Israel diskutierte Flutung des Tunnel-Systems mit Meer-Wasser könnte den gesamten Gaza-Streifen in eine unbewohnbare Salzwüste verwandeln. 

Dieser Krieg zerstört jede denkbare Aussicht auf eine friedliche Lösung irgendwann und damit auch die Sicherheit Israels. Noch nie sind in so kurzer Zeit in einem Krieg so viele UNO-Mitarbeiter und so viele Journalisten getötet worden wie in den letzten Wochen in Gaza. Die UNO hat im Gaza bisher 150 tote Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu beklagen – nach vier Wochen Krieg. Auf die Vernichtungssprache der Hamas gegenüber Israel antwortet die israelische Regierung mit einer ganz ähnlichen Vernichtungssprache gegenüber der Hamas. Diesen Hass und diese Gewalt müssen wir überwinden. Wir brauchen Kraft für Veränderungen.

Guterres fordert „Frieden um jeden Preis“. Noch ist es dazu nicht zu spät. Jetzt ist der Weltsicherheitsrat, also die Weltmächte, gefragt, einen Waffenstilstand zu organisieren. Dazu ist die UNO vor 75 Jahren gegründet worden. Wann wenn nicht jetzt?

Bei den bisherigen Friedensbemühungen im Nahen Osten ist die Rolle der Religionen bei diesem Konflikt meist verdrängt oder vernachlässigt worden. Die palästinensischen Terroristen haben „Gott ist groß“ bei ihrem Massakern an israelischen Zivilisten gerufen und Teile der israelischen Regierung beruft sich mit den Siedlern im Westjordanland auf das Alte Testament. Mehr Gotteslästerung geht gar nicht.

Auch die „christlichen“ Kreuzzüge waren nicht im Sinne des Bergpredigers. Alle drei abrahamischen Religionen sind wesentlich mit Schuld am jetzt hundertjährigen Schlamassel, am Chaos und der Gewalt im Nahen Osten. Religiöse Fundamentalisten mögen rechtgläubig sein, menschlich sind sie nicht. Dabei könnten Religionen mit ihrer Grund-Botschaft von Frieden, Liebe, Versöhnung und Mitgefühl einen wesentlichen Beitrag zur Versöhnung leisten. Auch hier gilt: Wann, wenn nicht jetzt wäre es notwendig, sich aus der Hamas-Falle zu befreien?

Ein Hoffnungsschimmer auch jetzt: Nach dem Jom-Kippur-Krieg gab es das Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel. Nach der ersten Intifada gab es die Friedensabkommen von Oslo und nach der zweiten Intifada den israelischen Rückzug aus dem Gaza-Streifen. Wenn nach 1945 Frieden zwischen Deutschland und Frankreich möglich war, dann ist auch Frieden zwischen Israel und den Palästinensern möglich. Vielleicht mit Hilfe der UNO und mutigen Religionsführern gerade jetzt. Sonst könnte Jerusalem noch der beste Ort sein, um Atheist zu werden.

Der Dalai Lama sagt es so: „Wir werden zwar ohne Religion geboren, aber nicht ohne das Grundbedürfnis nach Mitgefühl.“ Dazu gehört auch das Ur-Ethos aller Menschen aller Religionen und aller Weisheitslehren: „Du sollst nicht töten.“ Mit Hilfe pazifistischer Religionsführer auf beiden Seiten kann vielleicht die Dynamik des Hasses und der Rache überwunden werden. Wo wenn nicht im „Heiligen Land“?

Vielleicht könnten dann im besten Fall beide Seiten erkennen: Das Land reicht für beide! Welch eine Chance für ökonomische Kooperation, für Wohlstand, für Frieden und für eine nahöstliche wirtschaftliche Union nach dem Vorbild der Europäischen Union. Das war vor 80 Jahren in Europa so undenkbar wie heute in Nahost. Doch auch diese Vision wurde Realität.

Gerade wir Deutsche könnten dabei helfen, auf beide Seiten des Konflikts zu schauen. Wir sind mit dem Trauma der Gewalt Im Nahen Osten verbunden. Die Traumata der Gewalt durch die Shoa und durch die Nakba (Vertreibung der Palästinenser nach der Gründung Israels) lässt sich nur durch ein klares Votum für Gewaltfreiheit von außen stoppen.

Dabei brauchen wir zunächst eine politische Sprache, die das Existenzrecht beider Völker anerkennt. Dann wird es vielleicht eines Tages auch möglich, dass beide Konfliktparteien lernen, das Leid des Anderen zu verstehen, nachzuempfinden und anzuerkennen. Ein nachhaltiger und ehrenhafter Frieden wird möglich durch eine Revolution des Mitgefühls. Dafür ist es höchste Zeit. Eine Überwindung der Spirale der Gewalt ist nur mit Hilfe der arabischen Staaten möglich. Das Ziel muss ein gleichberechtigtes Zusammenleben der israelischen und der palästinensischen Bevölkerung sein. Deutschland sollte sich für die Gründung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO) einsetzen.

Ich höre immer wieder, dass dieser Konflikt unlösbar sei. Das hörte ich auch vor dem Fall der Berliner Mauer und vor der deutschen Wiedervereinigung. Dennoch ist die Mauer gefallen und Deutschland ist vereinigt. Die heutige Lage in Nahost ist so unerträglich, dass versucht werden muss, das unmöglich Scheinende möglich zu  machen. Nur eine politische Lösung kann den Krieg überwinden. Der erste Schritt hierzu: Israel hält sich im Gaza ans Völkerrecht. Wer in der Politik nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.

Spätestens jetzt im Atomzeitalter müssen wir Politik neu denken: Frieden ist nötig und möglich. Nicht weniger als unsere Menschlichkeit steht jetzt auf dem Spiel. Für viele ist Frieden heute noch ein Traum. Doch ohne einen Traum vom Frieden wird es auch morgen keinen Frieden geben.



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Quelle: © Dr. Franz und Bigi Alt / Sonnenseite.com

Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /