© Sly auf Pixabay
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Ärzteorganisation fordert Verbot von Militärangriffen auf Atomkraftwerke

Bericht zu den möglichen Auswirkungen einer Kernschmelze in Saporischschja

Die ärztliche Friedensorganisation IPPNW fordert von den Mitgliedsstaaten des Atomwaffensperrvertrages, eine deutliche Verurteilung jeglicher Angriffe auf Atomkraftanlagen, einschließlich Reaktoren, Lager für abgebrannte Brennelemente und andere kritische Infrastruktur oder Personal. Atomkraftwerke dürften nicht als Lager für schwere Waffen oder als Stützpunkt für militärisches Personal genutzt werden. Die Mitgliedsstaaten müssten zudem den Schutz aller Strukturen, Systeme und Komponenten, die für den sicheren Betrieb der Atomkraftwerke wesentlich sind, verbindlich vereinbaren.

„Jede Kernschmelze, ob durch militärische Aktivitäten verursacht oder in Friedenszeiten durch technische Sicherheitsdefizite bedingt, führt zu schweren dauerhaften Schäden für die Umwelt und die menschliche Gesundheit, in einigen Fällen mit tödlichen Folgen“, erklärt Dr. med Angelika Claußen, europäische Vizepräsidentin der Internationalen Ärzt:innen zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) anlässlich der Vorstellung eines von der IPPNW in Auftrag gegebenen Berichts zu den möglichen Auswirkungen einer Kernschmelze in Saporischschja auf der NPT PrepCom in Wien (dem Vorbereitungskomitee für die Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages). Vorläufige Studienergebnisse wurden heute auf einer Pressekonferenz in Wien präsentiert.

Dr. Nikolaus Müllner vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften (Universität für Bodenkultur, Wien) betont: „Die Ausbreitungsrechnungen zeigen, dass starke Maßnahmen wie die Einrichtung einer Sperrzone sehr wahrscheinlich auf den näheren Bereich um das Atomkraftwerk beschränkt wären. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit für Betroffenheit, z.B. Einschränkungen in der landwirtschaftlichen Nutzung, für einen großen Teil Europas nicht zu vernachlässigen."

„Ein adäquates Katastrophenmanagement während des Krieges ist nicht möglich. Erinnern Sie sich daran, dass die russischen Besatzer schon 2022 Verwaltungsgebäude und den Haupttransformator des Atomkraftwerks Saporischschja in Brand setzten, aber der Feuerwehr den Zutritt zur Anlage verboten.“

„Derzeit beschuldigen sich Russland und die Ukraine gegenseitig, einen terroristischen Anschlag auf das Kraftwerk zu planen. Auf diese Weise ist das Kraftwerk zu einer Kriegswaffe geworden, die eine Gefahr für Millionen von Menschen in der Ukraine, in den Nachbarländern und in ganz Europa darstellt. Das Kraftwerk und seine Sicherheit sind in diesem Krieg zum Faustpfand geworden. Das Recht, von radioaktiver Verseuchung verschont zu bleiben, kann nicht verhandelbar sein“, so Chuck Johnson, Programmdirektor für Atomwaffen und Abrüstungsfragen in der IPPNW.

Im Ukrainekrieg könnte ein Angriff auf das Atomkraftwerk Saporischschja katastrophale Folgen haben und eine Kernschmelze in bis zu sechs Reaktoren und den dazugehörigen Becken für abgebrannte Brennelemente verursachen. Eine versehentliche oder absichtliche Kernschmelze in einer oder allen diesen Anlagen birgt die Gefahr, dass sich die radioaktive Kontamination von Caesium und anderen radioaktiven Elementen über die Luft ausbreitet und im Boden der Ukraine und der umliegenden Staaten ablagert. Das hat kurz- und langfristig schwerwiegende Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit, die Umwelt, Pflanzen und Tiere sowie auf die Ernährungssicherheit. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) hat immer wieder vor den Gefahren militärischer Aktionen in und auf die Anlage gewarnt.

Der Atomreaktor von Tschernobyl brannte elf Tage lang. 36 % des gesamten radioaktiven Niederschlags entfielen auf Belarus, Russland und die Ukraine, etwa 53 % auf das übrige Europa. 11 % verteilten sich auf den Rest der Welt. Die belarussische Ärztin und Epidemiologin Lydia Zablotska bewertete die gesundheitlichen Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl nach 30 Jahren. Ihre epidemiologischen Studien berichten von einem erhöhten Langzeitrisiko für Leukämie, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und zerebrovaskuläre Erkrankungen sowie Katarakte bei Aufräumarbeitern, und für Schilddrüsenkrebs und nicht-maligne Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Die Forscherinnen Maureen Hatch und Elisabeth Cardis weisen darauf hin, dass der dosisabhängige Anstieg von Schilddrüsenkrebs nach einer Jod-131-Exposition im Kindesalter in der Ukraine und in Belarus nachweislich über Jahrzehnte hinweg anhält und dass Studien über Aufräumarbeiter auf einen dosisabhängigen Anstieg von Schilddrüsenkrebs und hämatologischen Malignomen bei Erwachsenen hinweisen. Sie berichten zudem über eine Zunahme von Herz-Kreislauf- und zerebrovaskulären Erkrankungen.

Bei der Kernschmelze von Fukushima im Jahr 2011 wurden große Mengen radioaktiver Stoffe aus den beschädigten Reaktoren und dem Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente in die Atmosphäre freigesetzt und gelangten ins Grundwasser und ins Meer. Die Freisetzung dauerte mehrere Wochen (26 Tage) an. 19 % des radioaktiven Niederschlags betrafen die japanische Hauptinsel Honshu, 79 % gelangten in den Pazifik und 2 % in die ganze Welt. Es war reines Glück, dass es in der Nacht vom 14. auf den 15. März 2011, als die größte radioaktive Wolke über Japan, einschließlich des Großraums Tokio mit 36 Millionen Einwohnern, hinwegzog, nicht regnete.

Die gesundheitlichen Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobylsind bisher besser erforscht als die des Reaktorunfalls in Fukushima, obwohl in beiden Fällen die wichtige Gelegenheit für große bevölkerungsbezogene Langzeitstudien über die gesundheitlichen Folgen der Strahlenbelastung verpasst wurde. Die Ergebnisse der Tschernobyl-Studien korrelieren gut mit anderen medizinischen Studien über die gesundheitlichen Auswirkungen niedriger Strahlendosen, die unter Atomarbeitern durchgeführt wurden, sowie mit Studien über die gesundheitlichen Auswirkungen des Uranbergbaus, anderen radiologischen Niedrigdosis-Expositionen und Studien über den Einfluss des Wohnorts in der Nähe von Atomkraftwerken und Schwankungen der Hintergrundstrahlung auf Krebserkrankungen bei Kindern, insbesondere Leukämie.

Die IPPNW Deutschland hat das Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften mit einer Kurzstudie beauftragt, in der die möglichen radiologischen Ausbreitungszonen im Falle einer Kernschmelze modelliert werden. Sie finden die eine Powerpoint-Präsentation mit den vorläufigen Ergebnissen hier.

Eine schriftliche Fassung des Berichts wird bis Mitte August durch die IPPNW veröffentlicht. Im Herbst folgt der vollständige Bericht mit neuen Ausbreitungsberechnungen.


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /