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Ernährungsräte im Aufschwung: Gutes Essen für alle!

Essen in der Stadt gemeinsam, demokratisch gestalten

Wien - Die Konzentration von Anbau, Verarbeitung und Verteilung von Lebensmitteln durch wenige große Agrar- und Lebensmittelkonzerne nimmt stetig zu. Dieser Entwicklung stellen sich nun auch in Österreich zunehmend Ernährungsräte auf städtischer Ebene entgegen. Eine neue Broschüre (1) von FIAN Österreich und dem Ernährungsrat Wien gibt einen Überblick über den Ursprung, die Ziele und Merkmale von Ernährungsräten sowie ihren Einfluss auf eine demokratische Lebensmittelpolitik.

Ernährungsräte als Gegenentwurf zum globalisierten Ernährungssystem

Ernährungsräte (englisch Food Policy Councils) streben eine Relokalisierung des globalisierten Ernährungssystems an. „Die gemeinsame Vision von Ernährungsräten ist, dass städtische Ernährungssysteme jedem Mensch Zugang zu nahrhaftem, gesundem, regionalem und kulturell angemessenem Essen ermöglichen. Dieses soll nachhaltig, sprich nicht auf Kosten von Mensch und Umwelt, produziert und verarbeitet werden. Ernährungsräte unterstützen die Menschen darin, über ihre Ernährung selbst zu bestimmen und das Ernährungssystem individuell und gemeinschaftlich mitzugestalten. Dadurch tragen Ernährungsräte zu einer Demokratisierung der Lebensmittelpolitik bei“, so Charlotte Kottusch, Mitinitiatorin des Ernährungsrats Wien (2).

Verknüpfung Stadt und Land

„Durch einen aktiven Dialog zwischen Politik, Verwaltung, Erzeuger*innen, Vertrieb und Verbraucher*innen können innovative und sektorenübergreifende Lösungswege ausgearbeitet und als Vorschläge in die öffentliche Debatte eingebracht werden. Ernährungsräte ermöglichen gemeinschaftliches politisches Handeln, indem sie unterschiedliche Expertisen an einen Tisch holen und in den politischen Prozess einbringen“, so Brigitte Reisenberger, Geschäftsleiterin von FIAN Österreich. Bei der Zusammensetzung wird besonders darauf geachtet, dass unterschiedlichste Akteur*innen wie unter anderem zivilgesellschaftliche Vertreter*innen, Gastronom*innen oder Erzeuger*innen mit am Tisch sitzen. Auch verschiedenste Themenbereiche wie das Recht auf Nahrung, Bildung und Bewusstseinsbildung sind Teil des Ernährungsrats. „Die Bedürfnisse der städtischen Bevölkerung sollen in Ernährungsräten mit denen der (klein)bäuerlichen Erzeuger*innen und den Zielen nachhaltiger räumlicher Planung zusammengedacht und zusammengebracht werden“, so Reisenberger weiter. Der Ansatz der Ernährungsräte schafft so eine Verknüpfung zwischen Stadt und Land und stärkt die Entwicklung einer ganzheitlichen und disziplinübergreifenden Annäherung an die Probleme in den jeweiligen Ernährungssystemen.

Ernährungsrat Wien: Gutes Essen für alle

Seit dem Jahr 2016 wurden auch im deutschsprachigen Raum immer mehr Ernährungsräte gegründet – den Anfang machten Köln und Berlin. In Österreich besteht bereits ein Ernährungsrat in Innsbruck und auch in Graz besteht Interesse. Der Wiener Ernährungsrat wurde erst kürzlich im November 2018 gegründet. In ihm verfolgt eine Initiativgruppe von rund 15 Personen aus Forschung und Gastronomie, Lebensmittelwirtschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen ein gemeinsames Ziel. „Durch den Aufbau des Ernährungsrates wollen wir zu einem ökologisch zukunftsfähigen und sozial gerechten Ernährungssystem für Wien und Umgebung beitragen“, so Charlotte Kottusch vom Ernährungsrat Wien. Dafür wird daran gearbeitet, Strukturen zu etablieren, die den Aufbau und Erhalt der Gestaltungsspielräume innerhalb des Wiener Ernährungssystems langfristig sicherstellen sollen. „Faire Arbeitsbedingungen und gute Perspektiven für die in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen sind uns also genauso wichtig wie mehr ökologisch und sozial gerecht produzierte Lebensmittel aus der Region etwa in Schulen, Krankenhäusern oder auf Märkten. Dass diese Lebensmittel nicht nur einigen wenigen, sondern bedingungslos allen Menschen zugänglich sind, gilt es genauso zu berücksichtigen, wie die Auswirkungen der Ernährung auf das Klima“, so Kottusch. Daher liegt ein Fokus auch auf den Stadt-Umland-Beziehungen, die die zunehmende Trennung zwischen Erzeuger*innen und Konsument*innen in der Stadt überwinden und die Bedürfnisse beider Seiten und aller anderen Beteiligten einbeziehen sollen. Alle, die den Wandel hin zu einem zukunftsfähigen Ernährungssystem aktiv gestalten wollen, sind zur Mitarbeit in ersten Projekten und im Prozess der Entwicklung einer gemeinsamen Ernährungsstrategie eingeladen.


Ernährungsräte weltweit: USA und Brasilien

Ernährungsräte sind in den 1980er Jahren in den USA entstanden, wo es heute weit über 200 solcher Initiativen gibt. Aber auch in vielen anderen Teilen der Welt haben sie sich etabliert. Der „Milan Urban Food Policy Pact“ (3) (deutsch: Pakt von Mailand zur urbanen Ernährungspolitik) von 2015 bekräftigt die Rolle und Verantwortung der lokalen Gemeinden in der Umsetzung des Rechts auf Nahrung und Ernährung. Der Pakt fordert insbesondere die direkte Beteiligung der Zivilgesellschaft und kleinerer Produzent*innen an Entscheidungsprozessen durch Ernährungsräte. Über 180 Städte weltweit, darunter auch Wien, haben den Pakt unterzeichnet.

Doch es gibt auch Gegenwind zu diesen positiven Entwicklungen. Am 1. Januar 2019 – am ersten Tag seiner Amtszeit – löste der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro den Nationalen Rat für Ernährungssicherheit (CONSEA) auf. Damit wurde ausgerechnet die Instanz abgeschafft, welche seit 2006 erheblich zur Hungerbekämpfung in Brasilien beigetragen hatte. Durch die Erfolge des CONSEA konnte das Land 2014 aus der „FAO Hunger Map“ gestrichen werden. Der CONSEA bündelte den Dialog zwischen Zivilgesellschaft und Regierung, um eine gesunde Ernährung der gesamten Bevölkerung zu gewährleisten. Für den Erhalt von CONSEA wurde eine Petition (4) gestartet, die bis Februar 2019 über 30.000 Menschen unterzeichnet haben.


1) Broschüre: Ernährungsräte: Auf dem Weg zu einer demokratischen Lebensmittelpolitik (FIAN Österreich/Ernährungsrat Wien, Februar 2019) https://fian.at/de/publikationen/bestellen-download/is-2019-03/
(2) Ernährungsrat Wien: www.ernaehrungsrat-wien.at
(3) Milan Urban Food Policy Pact: http://www.milanurbanfoodpolicypact.org/
(4) Petition CONSEA Brasilien: https://fian.at/de/artikel/petition-bolsonaro-muss-brasilianischen-rat-fur-ernahrungssicherheit-und-ernahrung-erhalten/


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /