© Wikipedia- Muon Barrel
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Urknallexperiment und Risiko

„Urknallmaschine“ vor Neustart - Neuer Fahrplan: Zwei Jahre mit halber Designkapazität wegen technischer Bedenken - Aktuelle Studie zur Risikofrage wird international zunehmend diskutiert

Auf einer Tagung in Chamonix (F), zu der nach und nach mehr Details bekannt werden, entschloss sich das CERN Management, den gigantischen Teilchenbeschleuniger LHC über zwei Jahre hinweg vorerst mit halber Designkapazität zu betreiben. Als Gründe werden technische Probleme und Bedenken angegeben. Im Jahre 2012 soll die ‘Urknallmaschine’ ganz abgeschaltet und mit erheblichen Mitteln für den Betrieb mit noch höheren Energien nachgerüstet werden. Eventueller Neustart könnte bereits in der Woche ab 22. Februar erfolgen. Laufende Adaptierungen - so mussten etwa 250 km neu verlegter Kabel ausgetauscht werden - könnten dies auch noch verzögern.

Die angepeilten 3,5 TeV (Terra-Elektronenvolt) pro Protonenstrahl (resultierend in 7 TeV Schwerpunktsenergie) würden bisherige Rekorde um mehr als das Dreifache übertreffen. Der Entschluss präsentiert sich als ein Kompromiss zwischen technischer Sicherheit bzgl. der Anlage und den Erwartungshaltungen der theoretischen Physiker am CERN. Techniker sollen auf ein vorsichtigeres Hochfahren gedrängt haben. Bedenken hinsichtlich Risiken für Mensch und Umwelt wurden offiziell nicht erwähnt.

Mehrkosten 2 Mrd Schweizer Franken?

Allerdings müssen umfangreiche Adaptierungen für einen besseren Strahlenschutz im Beschleunigerring zum Schutz des Personals vorgenommen werden, dies sei ursprünglich zu wenig berücksichtigt worden. Aufrüstungsmaßnahmen für den Betrieb mit noch höheren Energien und möglicherweise auch der Vorbeschleuniger könnten sich mit zusätzlichen 2 Milliarden SFR zu Buche schlagen:
’Large Hadron Collider Waiting For Doomsday” , by Alan Gillis

Unabhängige kritische Studie sorgt für Beachtung

Zuletzt hatte eine interdisziplinär orientierte unabhängige Studie eines US-Experten für internationales Recht in englischsprachigen Medien für Beachtung gesorgt, die den Mangel an einer externen Risikoevaluierung der Urknallmaschine scharf kritisiert, verschiedene sozialpsychologische Prozesse (‘groupthink’) als Risikomoment beschreibt und die laufende Diskussion um Gefahren durch extreme Materiezustände als weiterhin offene wissenschaftliche Frage ausweist:

’Many of the physicists quoted in the media on LHC safety issues seem not to have engaged with the literature in any depth,” Johnson told PhysOrg.com. ’Physicists speaking to the public about the black-holes question portray it as a simple matter. It really is not. At the end of the day, the LHC may or may not be safe, but most of the arguments you hear in favor of the collider lack robustness.”
In: "A Lawyer’s View of the Risk of Black Hole Catastrophe at the LHC”, ’PhysOrg.com” , January 22, 2010

Im englischsprachigen Raum erschienen hierzu zahlreiche kritische Artikel:

’Atom Smasher Exposes Hole in Earth’s Defenses: Kevin Hassett”
in: ’Business Week”, January 12, 2010
www.businessweek.com/news/2010-01-12/atom-smasher-exposes-hole-in-earth-s-defenses-kevin-hassett.html
[…]
’Worldwide Void
Right now, the world’s governments have no mechanism to coordinate rational thinking about these risks. […]
It is urgent that a panel be assembled to explore policy in the presence of catastrophic scientific risks.
The alternative is to continue to bet the future of our planet on a process that keeps producing safety assurances that are subsequently refuted.”

Die betreffende Studie:

Prof. Eric E. Johnson: THE BLACK HOLE CASE: THE INJUNCTION AGAINST THE END OF THE WORLD” Published in the Tennessee Law Review, Dec. 2009.
Internetquelle:arxiv.org/abs/0912.5480


Die wissenschaftliche Evaluierung physikalischer Hochenergieexperimente im subatomaren Bereich ist weiterhin unreguliert und folgt keinerlei standardisierter Verfahren. Neben rein hypothetischen Sicherheitsargumenten (‘Hawking-Strahlung’) wird auch der Vergleich mit natürlichen Ereignissen in der Atmosphäre unter verschiedenen Aspekten (erhebliche Seltenheit hoch energetischer kosmischer Strahlung relativ zum LHC-beam, viel weniger Frontalkollisionen, mögliche Interpretationsfehler der bislang nur indirekten Messungen, etc.) vielfach kritisiert. Die Masse, Geschwindigkeit, Herkunft und die Art der Teilchen in der kosmischen Strahlung ist Gegenstand laufender empirischer Forschungen und basiert wesentlich auf indirekten Messungen.
Glaubt man jedoch der Vergleichsmäßigkeit von CERN, dann entspräche der gesamte LHC-Versuch dem hochenergetischen Teilchenbombardement der Erdatmosphäre über 45.000 Jahre hinweg, konzentriert in einem haaresbreiten Protonenstrahl mit der Energie eines Flugzeugträgers.

Hinsichtlich zahlreicher abstrakt anmutender, jedoch seit einigen Jahren wissenschaftlich diskutierter exotischer Gefahren (Schwarze Löcher, Strangelets, Ausbreitung einer Vakuumblase, Magnetische Monopole, Gefahr einer für die Umgebung gefährlichen Detonation), haben sich Kritiker mit ausführlichen Darlegungen und unter Hinzuziehung von knapp 100 wissenschaftlichen Quellenverweisen an internationale Menschenrechtsgerichtshöfe sowie an die UN-Bildungs- und Wissenschaftsorganisation UNESCO gewandt, bspw.:
www.conCERNed-international.com
Eine rechtzeitige Reaktion ist fraglich.

Die CERN-Mitgliedsstaaten wälzen die Risikoevaluierung weiterhin an den Betreiber selbst (CERN) ab. Gesetzeslücken, der extraterritoriale Status des CERN, allgemeine Verantwortungsdiffusion und die Komplexität der Sicherheitsfrage verkomplizieren die Situation.

In Anbetracht der technischen Bedenken sowie der zuletzt genannten potentiell globalen Risiken stellt sich die Frage, warum CERN seinerseits nicht in viel kleineren Energiesprüngen, begleitet von sorgfältiger Analyse der Kollisionsprodukte je Energieniveau vorgeht.
Kritiker insistieren, dass der ‘größte Atomversuch aller Zeiten’ - nach derzeitigem Erkenntnisstand und ohne externe und multidisziplinäre Risikoevaluierung - überhaupt nicht auf bislang unerreichtem Energieniveau operieren sollte. Diesbezügliche Gesetzeslücken auf internationalem Niveau seien umgehend zu schließen.

Der aktuell – unter führender Koordination des CERN – auf den Weg gebrachte AMS 2 Detektor zur gefahrlosen empirischen Erforschung hochenergetischer kosmischer Strahlen:
press.web.cern.ch/press/PressReleases/Releases2010/PR02.10E.html
könnte mehr Licht in unser Verständnis der kosmischen Strahlung und somit in die Sicherheitsbeurteilung des LHC bringen, zuminderst im unteren Bereich. Für den hochenergetischen Bereich braucht es noch bessere Detektoren. Allerdings könnte AMS 2 (geplanter Start zur Internationalen Raumstation ISS im Juli 2010) Kollisionsprodukte, Anzeichen für Dunkle Materie, Antimaterie und Supersymmetrie, völlig gefahrlos entdecken, also teilweise spekulative Materiezustände, die man am CERN unter den extremen Bedingungen des LHC und mit noch viel größerem Aufwand künstlich produzieren will - sofern es sie denn gibt. Diese Ergebnisse und weitere empirische Versuche und Analysen müssten nach Maßgabe der Vernunft unbedingt abgewartet werden.

Weitere kritische Standpunkte angesehener Wissenschaftler und Persönlichkeiten:

Der Risikoexperte und Ethiker Dr. Mark Leggett schreibt in einer jüngeren Studie, der CERN-Sicherheitsbericht sei, ’from a number of authoritative standpoints, out of date”, ’has a conflict of interest” und erfülle weniger als ein Fünftel der zu erwartenden Kriterien. Der Pionier der Chaosforschung Prof. Otto E. Rössler schätzt das Totalrisiko bei Fortführung des Urknallexperiments auf 15%. Astrophysiker Dr. Rainer Plaga spricht diesbezüglich in Studien wiederholt und eindringlich von einem ‘Restrisiko’. Der bekannte Physiker Tony Rothman spricht sich in Anbetracht der realen Gefahren für einen permanenten Regulierungsmechanismus aus. Wissenschaftler des ‘Future of Humanity Institute’ der Universität Oxford resümieren in einer Studie, dass der derzeitige CERN-Sicherheitsreport keinesfalls das letzte Wort in der Angelegenheit sein könne. Der berühmte ‘Denker der Geschwindigkeit’ Prof. Paul Virilio kritisiert das Experiment in einer ARTE-Doku scharf. Der Leiter des Instituts für Risikoforschung in Wien, Prof. Wolfgang Kromp, befürwortet eine ‘Sonder - Umweltverträglichkeitsprüfung’ des LHC. Die Grande Dame der österreichischen Grünbewegung, Freda Meissner-Blau, steht den Versuchen ebenfalls sehr kritisch gegenüber.

Erst heute (!) ist der erste Artikel in einem deutschsprachigen Printmedium über die jüngsten Kontroversen zum Thema erschienen:

Schwarze Löcher - Ob sie wissen, was sie tun?
Von Marcel Hänggi in WOZ Die Wochenzeitung- Zürich


Der renommierte ‘New Scientist’ veröffentlichte eben einen Artikel von Prof. Eric Johnson:
CERN on trial: could a lawsuit shut the LHC down?

Trotz aktueller Unregelmäßigkeiten im Kühlsystem könnten die ‘injection beams’ bereits in der Woche ab 22. Februar 2010 - eventuell Donnerstags - ‘eingefädelt’ und sukzessive beschleunigt werden. Kollisionen bei Rekordenergien bis Faktor 3 könnten nach derzeitigem Fahrplan bereits ab Mitte März erfolgen.

In Anbetracht der offenen Fragen, konkreter Risiken und der gegenwärtigen Verantwortungsdiffusion wäre festzuhalten, dass dies keineswegs einer Vorgangsweise unter den Gesichtspunkten der ‘best practice’ in wissenschaftlicher Gefahrenbewältigung entspräche.

Weitere Informationen und News Blog:
www.LHC-concern.info

GastautorIn: Mag. Markus Goritschnig für oekonews.
Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /