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Tschechien: Kritik am staatlichen Energiekonzept wächst

Edvard Sequens: „Ich denke, dass bei uns in Zukunft keine neuen Reaktoren stehen werden.“

Edvard Sequens absolvierte die VVTS(Hochschule für Militärtechnik) in der slowakischen Stadt Liptovsky Mikulas mit einem Schwerpunkt im Fachbereich automatischer Steuerungssysteme. Seit 1997 ist er Vorsitzender der NGO Calla, eines Umweltschutzvereins mit Sitz im südböhmischen Budweis, wo er zugleich als Berater und Projektmanagerim Bereich Energie tätig ist (www.calla.cz/index.php?lang=eng). Er arbeitete in der unabhängigen Expertenkommission mit, welche den langfristigen Energiebedarf der Tschechischen Republik beurteilen sollte und gleichfalls als externer Berater des Tschechischen Umweltministeriums. Er ist auf erneuerbare Energien und die Kernkraft spezialisiert. Auch war er an der Ausarbeitung des alternativen Konzepts ‘Chytra energie’ (SchlaueEnergie) beteiligt, eines Konzeptes, das sich mit der Entwicklung der Tschechischen Energiesituation beschäftigt, oder erstellte eine Liste von Projekten, welche die Nutzung erneuerbarer Energiequellen in Südböhmen dokumentiert und unter www.zdrojeenergie.cz zusammengefasst ist. Für seine Arbeit, welche den Einsatz von Photovoltaik fördert, hat er von der tschechischen Tochtervereinigung des Verbanden Eurosolar den ‘Tschechischen Solarpreis 2002’ erhalten.



Zu Beginn wird die Leser sicherlich interessieren woran Sie zurzeit arbeiten?

Derzeit beschäftigen wir uns vor allem mit einem Projekt, das die Position der Öffentlichkeit und der Bürgermeister in Regionen stärken soll, in denen der Staat Endlagermöglichkeiten für radioaktive Abfälle sucht. Wir konzentrieren uns vor allem auf den Kreis Vysocina, wo sich die meisten dieser Regionen befinden. Im Rahmen dieses Projektes organisieren wir öffentliche Debatten, teilen Infoblätter aus und informieren mittels Anschlagtafeln und Schaukästen in den Gemeinden über Neuigkeiten. Vor kurzem erschien auch der erste Newsletter ‘Kernkraftfreie Vysocina’.

In welcher Phase befindet sich die Suche nach einem Endlager gerade?

Es sollen geologische Untersuchungen beginnen. Rund 11 Jahre haben wir in Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit und den Bürgermeistern die Arbeiten rund um den Bau eines Endlagers blockieren können. Im Jahr 2004 hat die Regierung die Suche offiziell nur für 5 Jahre ausgesetzt. Weil wir aber im Stande waren, die Standpunkte der Kommunen und der Öffentlichkeit zusammenzubringen und zugleich der entsprechenden Position auch medial Gehör verschaffen konnte, traute sich keine Regierung, gegen die entschlossene Ablehnung der Gemeinden mit den Arbeiten für ein Endlager fortzufahren. Erst in den letzten Jahren hat sich der Ansatz der jeweiligen Regierungen insofern massiv verändert, dass diese nun auch trotz des Widerstands der Öffentlichkeit ihre Pläne um jeden Preis umsetzen möchten.

Im April haben Sie einen Anti-Endlager-Tag organisiert. Wie viele Menschen nahmen daran teil?

Zunächst einmal muss ich sagen, dass wir ihn nicht organisiert haben. Wir haben nur das getan, was wir konnten. Wir halfen zu koordinieren und mit den Medien zu kommunizieren. Organisatoren waren die Bürgermeister und Gemeindeverbände, was für uns sehr wertvoll war. Insgesamt haben etwa 1100 bis 1200 Personen teilgenommen. Mancherorts gab es nur Dutzende, anderenorts Hunderte Teilnehmer. Es gab verschiedene Veranstaltungen und mit dem Ergebnis sind wir recht zufrieden. Über den Anti-Endlager-Tag wurde in vielen Zeitungsartikeln berichtet und auch das Datum war gut gewählt. Er fand statt, als Minister Brabec gerade beschlossen hatte, eine Beschwerde der betroffenen Gemeinden und Gemeindeverbände zu ignorieren und seine Unterschrift unter den Antrag einer Genehmigung für den Beginn der Suche nach möglichen Endlagern setzte.


Haben Sie zum Anti-Endlager-Tag schon eine Rückmeldung von Politikern bekommen? Um ihre Unzufriedenheit auszudrücken nahmen immerhin mehr als tausend Bürger an den Demonstrationen teil.

Von lokalen Politikern sehr wohl. Wir werden von einigen Politikern auf der Kreisebene unterstützt, zum Beispiel von den Parteien STAN und den Grünen. Aber landesweit nicht. Und das ist schon eine Angelegenheit die etwa aus der Zeit des Ministers Kuba kommt (Anm. der Red.: Martin Kuba diente als Minister für Industrie und Handel in der Nečas Regierung von November 2011 bis Juli 2013), der aufgehört hatte, auf Freiwilligkeit und Entgegenkommen Wert zu legen. Dann begann er ganz massiv an der Durchsetzung so eines Endlagers zu arbeiten, unabhängig davon, was die Betroffenen dazu meinen. Daher haben die Bürgermeister mit uns und Gemeindeverbänden den Aufruf ‘Das Tiefenendlager fair" verfasst. Diesen Aufruf, der Politikern übergeben wurde, unterzeichneten etwa 130 Dörfer und Städte, von ihnen die meisten aus einem breiteren Umkreis, als nur aus den potentiell betroffenen Standorten selbst. Es waren im Grunde Einzelpersonen, die auf diesen Aufruf irgendwie, zumeist formal, reagiert haben. Also ist es so, als ob trotz des großen und langfristigen Interesses der Medien die ganzen Bemühungen in einem Kanal versickert wären. Das Problem ist vielmehr, dass unsere Politiker dieses Problem zunehmend auszublenden versuchen. In Bezug auf die Kernkraft herrscht oft geradezu eine Art Hysterie, und zwar insofern, dass diese doch gebraucht würde. Dieselben Politiker, welche die Kernkraft so stark vertreten, übersehen dann ein großes Problem, und das ist der Atommüll. Aus diesem Grund sind sie sogar bereit das Leben von Tausenden von Menschen, die in Regionen wohnen, in denen der Abfall enden soll, über die Klinge springen zu lassen.

Die Regierung hat vor kurzem eine Aktualisierung des staatlichen Energiekonzeptes und den damit verbundenen nationalen Aktionsplan zum Ausbau der Kernkraftnutzung im Land beschlossen. Beide Dokumente werden häufig kritisiert. Könnten Sie unseren Lesern erklären, warum?

Das Konzept basiert in erster Linie auf Ansichten, die in diesem Teil von Europa leider weit verbreitet sind. Es scheint, als ob wir uns permanent ein Beispiel aus der Vergangenheit nehmen würden. Viele Menschen haben den Eindruck, dass alles, was bisher funktioniert hat auch genauso weiter funktionieren wird. Es scheint, dass unsere Politiker vor dem, was im europäischen und weltweiten Energiesektor geschieht, die Augen schließen würden. Es gibt hier keine rationelle, keine angemessen aktualisierte Vision einer modernen Energiewirtschaft und Industrie. Die Tschechische Republik war in der Atomindustrie ein europäischer Spitzenreiter und möchte das auch bleiben.

Das Energiekonzept basiert auf der Annahme eines hohen Stromverbrauchs ohne Nutzung des Potentials der erneuerbaren Energien. Weil die Kohlereserven bald erschöpft sein werden, sehen die Autoren die einzige Rettung in der Kernenergie. Und zwar in erheblichem Umfang. Etwa 50% des benötigten Stroms sollen in Atomkraftwerken erzeugt werden. Frankreich, das zurzeit der Spitzenreiter in Sachen Kernkraft ist, wird in Zukunft sicherlich weniger Atomstrom produzieren. Frankreich soll bereits im Jahr 2025 das Produktionsvolumen seiner Kernkraftwerke von den aktuellen 75% auf knapp 50% zurückfahren. Und ich denke, dass diese Quote noch weiter zurückgehen wird, weil dort nur mehr ein einziger Reaktor gebaut wird und kaum weitere dazukommen werden. Die Tschechische Republik plant vier Atomreaktoren zu bauen, was natürlich Unsinn ist.

Dabei werden die Kosten vergessen und es wird davon ausgegangen, dass den Kraftwerksbau still und leise vom tschechischen Steuerzahler berappt werden wird. Die Medien brachten unzählige Nachrichten darüber, wie aufgrund schlechter Regulationsmechanismen Unmengen von Geld in die Photovoltaik flossen. Wenn hier neue Reaktoren gebaut werden, wird es ein Vielfaches zu zahlen geben und vor allem länger. Bis zu 35 Jahre nach der Inbetriebnahme noch, also werden auch unsere Enkel für die heutige Entscheidung noch zahlen müssen.

Es wird auch nicht davon gesprochen, dass unser Einsparpotential viel höher ist, als das, welches im erstellten Energiekonzept angeführt wird. Auf dem Papier wird zwar der Energieeffizienz das Wort geredet, es fehlt aber an konkreten Werkzeugen mit denen man die Nutzung dieses Potentials umsetzen könnte. Ich wage zu behaupten, dass das geplante Potentialauf keinen Fall ausgeschöpft wird.


So, wie Sie das beschreiben, scheint die Situation fast hoffnungslos. Lässt sich da überhaupt etwas machen?

Tatsache ist, dass die Politiker nicht über die Auswirkungen ihrer Planung nachdenken und ihnen vielleicht auch egal ist, was in 20 Jahren sein wird, wenn hier 4 Reaktoren gebaut werden. Sie beziehen sich auf die Zukunft, während sie sich selbst nicht mehr mit den Auswirkungen ihrer Entscheidungen auseinanderzusetzen haben werden. Ich denke, dass bei uns in Zukunft keine neuen Reaktoren stehen werden, das sind völlig unrealistische Erwartungen.

Ein großes Manko des Energiekonzepts ist vor allem deren Mangel an Optionen. Sie blickt nur in eine Richtung und legt den nationalen Aktionsplan rein zugunsten der Kernenergie aus. Es fehlen jedoch ähnlich ehrgeizige Pläne für die erneuerbaren Energien und die Energieeffizienz, sodass uns inzwischen der Zug davonfährt. Während sich die Tschechische Republik auf die Kernkraft und große Quellen konzentriert, entwickeln sich zum Beispiel Deutschland oder Österreich mittlerweile in eine ganz andere Richtung. Aber gerade das ist unsere Hoffnung, dass wir nicht lange werden gegen den ‘Strom’ schwimmen können.

bWie kann der Verbraucher die ganze Sache beeinflussen?

Vor allem, wenn er nicht viel Geld hat und sich somit nicht leisten kann, in eigene Ressourcen zu investieren, kann er zumindest zu einem Anbieter von Ökostrom wechseln. Es ist auch möglich, die Heizung umzubauen und mit der Unterstützung des Förderprogramms ‘zelena usporam’ (Grün den Einsparungen) in die Gebäudedämmung zu investieren. Es ist notwendig, über die Zukunft nachzudenken, den Verbrauch zu reduzieren und die Energiequellen auszutauschen. Und ich denke, dass in ein paar Jahren jeder seine eigene Photovoltaik-Anlage bauen kann, die billigeren Strom produzieren wird als der, der aus Netz kommt. Das geschieht bereits heute, diese Entwicklung wird aber von hohen Anfangsinvestitionen gebremst. Ich erwarte, dass innerhalb von 10 Jahren die entsprechenden Preise deutlich sinken werden, was bereits aus vielen Analysen abgelesen werden kann.

Ich glaube, dass viele Menschen selbstständig zu billigeren Quellen wechseln und unabhängiger sein werden und dass die Nachfrage nach Strom aus zentralen Quellen zu sinken anfangen wird. Ich betrachte die Zukunft in dieser Hinsicht optimistisch, die Reaktoren werden letztlich nicht gebaut und wir werden sie auch nicht bezahlen müssen. Aber es ist sicher schade, dass wir uns hier rosarote Schlösser einer atomaren Renaissance zeichnen und dabei moderne Entwicklungen völlig vernachlässigen.

In der Januar-Ausgabe dieses Newsletters haben wir ein Interview mit einem der Gründer von ‘Som energia’ – einer spanischen Energiegenossenschaft, die Strom ausschließlich aus erneuerbaren Energiequellen produziert und vertreibt, veröffentlicht. Können ähnliche Gemeinschaftsprojekte auch in unserem Land entstehen?

Derzeit wird so etwas wahrscheinlich von verschiedenen administrativen Barrieren behindert. Aber vielleicht steckt auch eine gewisse Unwilligkeit oder eher Misstrauen in Bezug auf ähnliche Projekte dahinter. In letzter Zeit haben sich einige Gemeinschaftsprojekte entwickelt, und ich glaube, dass die Zeit solcher Projekte in der Energiebranche noch kommen wird. Von Nachteil ist sicherlich auch, dass sich die Stromnetze im Besitz großer Konzernen befinden. Damit gibt es auch ziemliche Probleme in Deutschland, wo sie für große Städte eigene Netze haben möchten aber nicht können. Die Netze sollten heute anders verwaltet werden, weil große Unternehmen einer starken Konkurrenz in Form von Genossenschaften nur ungern den Zutritt zu ihren Netzen ermöglichen.

In den neunziger Jahren gab es große Proteste gegen die Fertigstellung von Temelín. Denken Sie, dass sich seither die Meinung der Menschen zur Kernkraft verändert hat?

Ich denke, die allgemeine Wahrnehmung ist die gleiche. Etwa die Hälfte der Tschechen glauben immer noch, dass die Kernkraft eine großartige Lösung ist. Nur Menschen, die an problematischen Standorten leben, egal ob bei einem neu geplanten Endlager, einer Uran-Mine oder an einem Ort, wo Uran zu Kernbrennstoff weiterverarbeitet wird, erschrecken plötzlich und die Zusammenhänge werden ihnen klar.

Menschen die anderswo leben, stört ein Endlager nicht, solange es nicht gerade dort gebaut wird, wo sie ihr Wochenendhaus besitzen. Sie empfinden das von diesem Standpunkt aus wie die meisten Politiker und Journalisten. Wenn wir halt einmal die Kernenergie haben, müssen wir uns auch darum kümmern, was mit den nuklearen Abfällen geschieht. Sie glauben, dass sie als Minderheit der Mehrheit nachgeben müssen, weil sie nicht direkt betroffen sind. Sie können sich aber nicht in die Lage der Menschen versetzen, die seit Generationen in einer kleinen Ortschaft leben und denen dann in ihrer Nähe so ein Monster vor die Nase gesetzt werden soll. Es geht nicht nur um nukleare Risiken. Im Laufe der Zeit verwandelt sich die Sozialstruktur des Dorfes, das Verkehrsaufkommen wird stark wachsen und es wird die Angst vor dem Atommüll allgegenwärtig sein. Aber vielleicht erst in 50 Jahren, und das plagt heute noch niemanden wirklich. Noch dazu wird ihnen gesagt werden, dass sie die Folgen für den Betrieb der Kernkraftwerke werden tragen müssen, obwohl sie darüber selber nie entscheiden konnten.

Haben Sie irgendwelche Wünsche für die Zukunft?

Ich würde mir wünschen, dass die tschechischen Politiker den Menschen mehr zuhören und weiter als über den Horizont einer Wahlperiode blicken würden. Und dass sie eine vernünftige Vision darüber bekommen, wie unser Energiewesen in Tschechien in 30 oder 50 Jahren aussehen soll.



Übersetzung ins Deutsche: Viktor Weinstein, Bernhard Riepl, www.sonneundfreiheit.eu
Übersetzung aus dem Tschechischen Original, veröffentlicht am 15.6.2015 auf www.zelenykruh.cz


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /