© oekonews / AKW Beznau
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Chronologie des Schweizer Atomausstiegsmodells: die Entscheidung rückt näher

Landesweites Referendum geplant

Die Schweiz nähert sich in der Energiepolitik einer Phase, die weitgreifende Konsequenzen nach sich zieht: noch vor der parlamentarischen Sommerpause soll die Verabschiedung des ersten Paketes der strategischen Energiemaßnahmen 2050 erfolgen, welche den Ausbau der erneuerbaren Energienutzung zum Ziel haben. Im Herbst wird dann auf dieses ‘Pflichtprogramm’ die ‘freie Kür’ folgen: bei diesem ‘Hauptprogramm’ wird im Rahmen eines landesweiten Referendums ordnungsgemäß über den Ausstiegs aus der Atomenergie abgestimmt. Mit diesen Entscheidungen wird sich die verspätet eingesetzte Energiewende in der Schweiz endlich beschleunigen. Oder, im umgekehrten Fall, werden die ersten zaghaften Anfänge im Bereich der erneuerbaren Energien wieder einmal von der mächtigen konservativen Elektrizitätsindustrie unterdrückt werden.

Werfen wir einen Blick auf die vergangenen 8 Jahre:

2008: Neue Atomreaktoren in Planung
Vor 8 Jahren schien alles noch erwartungsgemäß zu verlaufen. Die drei großen Schweizer Energiekonzerne Axpo, Alpiq und das BKW – alle drei überwiegend in öffentlicher Hand – stellten bei der Regierung den ersten von insgesamt drei Anträgen zum Bau eines neuen ‘Evolutionary Power Reactor’ (EPR). Damit sollten die drei bisherigen in die Jahre gekommenen Atomreaktoren – die laut Betreiber unsicher waren (in Mühleberg – Inbetriebnahme 1972, und in Beznau 1 und 2 -1969 und 1971) - eines Tages ersetzt werden. Sie sollten zusammen mit den 2 anderen Reaktoren in Gösgen (1979) und Leibstadt (1984) die Grundlage für die Zukunft der Atomkraft in der Schweiz bilden.

In der Schweiz unterliegt der Bau neuer Atomreaktoren einem Referendum. Man ging davon aus, dass die entsprechende Abstimmung im Jahr 2012 stattfinden würde. Gleichzeitig wurde die Suche der Energieproduzenten nach einem Endlagerstandort – eine der Bedingungen für neue Reaktoren – intensiviert, zumindest dem äußeren Anschein nach. Die Reihen der Atomgegner waren zwar geschlossen aber nicht unüberwindlich, fanden die Atombefürworter.

2011: Der Wendepunkt

Dieser trat am 11. März 2011 ein: die Fukushima-Katastrophe und ihre global-politische Auswirkung. Deutschland traf die unmittelbare Entscheidung, das Atomausstiegsabkommen aus dem Jahre 2000 zu beschleunigen. Diese Maßnahme des großen Nachbarlandes hatte, wie schon öfter, einen spürbaren Einfluss auf die Schweizer Debatte. Im Juni 2011 entschloss sich auch die Schweizer Regierung zu einem ‘schrittweisen’ Ausstieg aus der Atomkraft. Der Bau neuer Reaktoren sollte verboten werden; aber anders als in Deutschland wurde kein spezifisches Datum für die Abschaltung der bereits vorhandenen Reaktoren vorgegeben.
Der Schweizer Energieminister ging angesichts dieser neuen politischen Realität zu Recht davon aus, dass ein Referendum zum Bau eines neuen Reaktors ein Jahr nach Fukushima mit Sicherheit in einer totalen Ablehnung enden würde. Konsequenterweise wurde von der Regierung eine umfassende Strategie entwickelt, die aufzeigte, wie der ca. 33%-Anteil der Atomkraft an der Schweizer Energieversorgung ersetzt werden sollte. Zu diesem Zwecke wurde ein Gesamtpaket entwickelt, bei dem auch die mittel- und langfristige Reduktion der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen ein Bestandteil war. Damit entwickelte sich der ‘schrittweise’ Ausstieg aus der Atomenergie zu einer Totalumkehr des bisher Praktizierten. Nicht weniger als zehn Gesetze müssen allein für das erste Maßnahmenpaket 2050 überarbeitet werden.

Und dennoch: nicht nur die Regierung zeigte sich handlungsfreudig. Nur zwei Monate nach der Fukushima-Katastrophe – noch vor der Regierungsentscheidung, schrittweise aus der Atomenergie auszusteigen - geschah Folgendes: die Partei der Grünen begann, Unterschriften für eine nationale öffentliche Initiative zu sammeln, die sich für einen geordneten Ausstieg aus der Atomkraft einsetzte. Diese Initiative trat einerseits für das Verbot aller neuen Bauvorhaben sowie für eine 45-Jahre-Betriebsbeschränkung aller laufenden Reaktoren ein. Diese Initiative der Grünen erwies sich auch als gutes Mittel im Wahlkampf. Bei den Nationalratswahlen im Herbst 2011 waren die Antiatomkraft-Parteien eindeutig die Gewinner. Politikwissenschaftler bezeichnen dies als den ‘Fukushima-Effekt’.

2013: Das legislative Mühlrad

Daraufhin folgte der sich mühsam hinziehende ‘ordentliche’ Prozess der Legislative: zuerst eine landesweite Beratung und Überprüfung eines der ersten Gesetzesentwürfe. Beginnend mit dem Jahr 2013 wurde dann eine Gesetzesvorlage lang- und breit diskutiert; und zwar in beiden Kammern des Parlaments. Hierbei blieben freilich nicht alle Punkt der ursprünglichen Absichten der Atomkraftgegner erhalten. Der Atomausstieg wurde ebenfalls verwässert: Gesetze, welche bereits bestehende Reaktoren betrafen, beließ man inhaltlich weitestgehend in ihrer Version von vor der Katastrophe von Fukushima. Die Bedingung eines sogenannten ‘Konzeptes einer Langzeit-Inbetriebnahme’ – es erlaubt in jedem einzelnen Fall eine maximale Betriebsdauerverlängerung von zehn Jahren – wurde nicht im Gesetz inkludiert (…) Das Prinzip des ‘Betriebs so lange es sicher ist’ bleib weiterhin der Grundsatz für die bereits vorhandenen Reaktoren.

2015: Das große Vergessen

Die Gesetze waren noch nicht gänzlich ausdiskutiert, als im Herbst 2015 Nationalratswahlen anstanden. Ohne den großen Atompilz am Horizont setzte sich der allgemeine Rechtsruck in der Schweizer Politszene weiter fort. Anstelle einer Atomkatastrophe stand das Thema Flüchtlingspolitik an oberster Stelle des ‘Schweizer Sorgenbarometers’. Und das Parlament hatte mit Blick auf die Zeit nach der Wahl bereits seine Zukunftsperspektive klargestellt, die sich aus weiteren Verhandlungen im Rahmen der ‘2050 Strategischen Energiemaßnahmen’ ergaben: der Gesetzesentwurf wurde nach und nach weiter verwässert. Die ursprünglichen Befürworter der ‘2050 Strategischen Energiemaßnahmen’ schienen also entsprechend des Sprichwortes bereit, die bittere Pille zu schlucken: ‘Besser ein Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach’.

2016: Neue Wirklichkeiten

Die Initiative der Grünen Partei, einen realen schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie zu erreichen, wurde bei der Regierung als Teil der ‘2050 SEM’ wiederholt eingereicht. Letztendlich wird darüber im kommenden Herbst auch wirklich abgestimmt. Unabhängig vom fünften Gedenktag an Fukushima gab es nur wenige Erinnerungsmomente während der Vorbereitungsphase für die Abstimmung. Aber es gibt einen neuen Faktor, mit dem zu rechnen ist: die niedrigen Energiepreise und ein liberalerer Elektrizitätsmarkt bereiten den Schweizer Energiebetreibern große finanzielle Schwierigkeiten. Im März kam der Inhalt eines Alpiq Dokumentes an die Öffentlichkeit, in dem stand, dass der schwächelnde Konzern Überlegungen anstelle, nach welchen die Verstaatlichung von Atomkraftwerken in Betracht gezogen werden solle, wenn diese nur defizitär zu betreiben seien.

Die Entscheidung des Energiekonzerns BKW, seinen Atomreaktor in Mühleberg im Jahr 2019 endgültig abzuschalten, wurde mit dem Antrag auf dessen Stilllegung offiziell. Der Grund dafür: die verschiedenen Modernisierungsmaßnahmen, die von der Aufsichtsbehörde verlangt wurden – aufgrund der Erkenntnisse aus Fukushima – kosten einfach zu viel. Außerdem ist der Beznau 1 Reaktor wegen Anomalitäten im Druckbehälter schon etwa ein Jahr lang abgeschaltet. Seine Zukunft bleibt ungewiss.

Und so mögen sich viele Wählerinnen und Wähler plötzlich fragen, ob eine wirtschaftlich todkranke Technologie nicht sowieso durch die kommenden Referenden zu Grabe getragen wird. Es gibt keine Alternative zu einem offiziellen Ausstieg aus der Atomenergie. Jetzt kommt es darauf an, den – bislang rein wirtschaftlichen – Schaden soweit wie möglich zu minimieren. Die Aufsichtsbehörden haben auch schon vor dem wachsenden Risiko jener alternden Atomreaktoren gewarnt, die in den letzten Jahren wegen eines Mangels an Wartungsmaßnahmen vernachlässigt worden sind. Die festgelegte Obergrenze der Betriebsdauer von 45 Jahren beim Reaktor in Beznau und seine schon bald vorgesehene Abschaltung machen kritische Überlegungen noch dringlicher.

Wir werden diesen Herbst zur Abstimmung schreiten. Die Frage: ‘Wie lange ist die Halbwertszeit der Fukushima-Katastrophe für einen Durchschnittsschweizer?’ ist überflüssig. Stattdessen sollten wir vielleicht fragen, wie wir uns am schnellsten von so einer veralteten Technologie verabschieden können. Oder wenden wir uns noch einmal den Eiskunstläufern vom Anfang dieses Artikels zu, die bereits zahllose Pirouetten um die 2050 Strategischen Energiemaßnahmen gedreht haben. Werden diese Läufer – werden wir – endlich in der Lage sein, das Pflichtprogramm und die freie Kür mit Bravour zu beenden? Es wäre nur wünschenswert, wenn ein so fortschrittliches und an Natur und Technologie reiches Land wie die Schweiz sich von ihrer veralteten Atomreaktor-Sammlung verabschieden könnte.

Autor: Nils Epprecht, Schweizerische Energiestiftung
Auf Englisch im Nuclear Monitor Nr. 823 publiziert.
Übersetzung und Bearbeitung: Ina Conneally, Bernhard Riepl, www.sonneundfreiheit.eu


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /